„Und denkt ihr nun anders über uns Saudis?“, fragt Ahmed unser Gastgeber nach fünf Tagen in seiner Stadt. „In Europa glauben doch noch immer Viele, wir wohnen alle in Zelten, sitzen den ganzen Tag rund ums Lagerfeuer, reiten auf Dromedaren zur Arbeit und haben eine Bombe in der Hosentasche.“ Er muss selbst etwas schmunzeln. Aber wie abwegig ist diese Vorstellung wirklich? Was hatten wir für eine Erwartung von Saudi Arabien und seinen Menschen bevor wir hier herkamen?
Saudi Arabiens strikte Abschottung hat die letzten Jahrzehnte mit Sicherheit dazu beigetragen das Klischeedenken über den stolzen Wüstenstaat zu fördern. Vom alltäglichen Leben der Saudi-Arabier*innen bekam man schließlich in Europa nichts mit.
Für den Tourismus war es lange so gut wie geschlossen. Nur muslimische Pilgerreisende oder Gastarbeiter*innen bekamen ein Visa. Das ist heute anders. Saudi-Arabien öffnet sich. Sieht man sich jedoch an wieviele Menschenrechtesverletzungen laut Amnesty International hier passieren, möchte man am liebsten noch immer einen großen Bogen um das Land machen. Saudi-Arabien unterliegt einer absoluten Monarchie, das Rechtssystem richtet sich nach der islamischen Scharia. Die Todesstrafe wird mittels Enthauptung auf einem öffentlichen Platz vollzogen. Zwischen 2015 und 2019 wurden im Schnitt 160 Menschen pro Jahr exekutiert. Osama Bin-Laden kam ursprünglich aus dem heute so modernen Jeddah und war Sohn einer sehr einflussreichen Familie. Einige Terroristen des 11. September waren Saudis. Mit Regierungskritiker*innen wird alles andere als sanft umgegangen. Noch immer haben strenge wahhabitische Gelehrte Einfluss auf die Regierung, der König ist neben der Scharia auch an die Wahrung von Traditionen gebunden. Die freiwillige Verschleierung gibt es erst seit ein paar Jahren. Seit 2018 dürfen Frauen endlich den Führerschein machen, Unverheiratete im selben Auto fahren. Und kann man sich vorstellen dass bis 2018 auch Kinos für lange Zeit verboten waren?
Saudi Arabien unterliegt aktuell einem enormen ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel.
Martin Pabst in „Saudi-Arabien verstehen“
Vielleicht waren es neben der Natur auch die Geschichten, Gerüchte und Klischees, die uns reizten das Land zu besuchen. Wie leben Menschen in so einem System? Wie stehen sie zu dem Wandel in ihrem Land? Welche Traditionen werden noch immer aktiv gelebt? Wenn wir etwas auf Reisen gelernt haben, dann, dass die (meisten) Menschen NICHT ihre Regierung sind.
Was wir bereits nach zwei Wochen in diesem unglaublich großen Land wissen: Die arabische Gastfreundschaft erlebt für uns hier ihren Höhepunkt. Wir können uns vor den Fragen ob es uns gut geht und wir etwas brauchen manchmal gar nicht retten. Unser Konsum an arabischem Kaffee, Tee und Datteln steigt ins Unermessliche und wir wissen nicht mehr wie oft wir schon zum Essen eingeladen wurden. „Zum Essen einladen“ bedeutet hier nicht unbedingt, dass ein Einheimischer dich zum gemeinsamen Mahl einlädt. Mindestens genauso oft wird einfach im Restaurant unsere Bestellung bezahlt. Von einem Fremden. Teilweise bekommen wir den Einladenden gar nicht zu Gesicht, oder er begründet seine Einladung nur kurz mit: „Welcome to Saudi Arabia“
Darauf waren wir nicht vorbereitet, auch wenn wir von der enormen Gastfreundlichkeit der Araber*innen im Vorhinein wussten. Es ist uns immer wieder unangenehm wenn uns nichts anderes bleibt, als uns beim Einladenden, im Falle seiner Anwesenheit, zu bedanken. Oder den Angestellten des Restaurants ein höheres Trinkgeld zu geben, sodass wir zumindest das Gefühl haben einen Teil selbst zu bezahlen.
Eine Reise quer durch Saudi-Arabien ist ein andauernder Wechsel von Tradition und Moderne. Männer tragen in der Regel die Thobe, ein traditionelles, langärmeliges Gewand. Je nach Witterung wird Baumwolle, Wolle oder auch Synthetik getragen. Im Winter z.B. auch lange Unterhosen darunter. Die Ghutra, die Kopfbedeckung spielt ebenso eine große Rolle und wird viel getragen. Traditionell wird sie mit einer schwarzen Kordel zusammengefasst. Auf den Straßen sieht man nicht nur das traditionelle rot-weiße Tuch, es gibt schier unendlich viele Muster und Binde- bzw. Faltvariationen zu sehen. Johannes wird von Ahmeds Freund, der Kleidung herstellt, einmal komplett eingekleidet, inklusive maßgeschneidertem Qamis. Ebenso Leo, der sich aber vehement weigert sein Kleidungsstück anzuziehen. Schon im Oman sahen wir viele Menschen in Lederschlappen, was hier in Saudi Arabien ähnlich ist. Manchmal bekommt man sogar fußballspielende Jungs in ihrem langen Kleid zu Gesicht, der Rock wird einfach ein Stück nach oben gezogen. Frauen sind meist vollverschleiert, tragen hauptsächlich schwarz. Durch den freien Schlitz an den Augen blitzen einem immer freundliche, dunkle Augen entgegen. Die Handtasche, der Schmuck oder auch der Stoff und die Verzierung des Umhangs lassen trotz der gleich wirkende Textilie auf den gesellschaftlichen Status schließen. In den großen Städten ist es oft nur die Abaya, ein lange Robe oder Umhang, die über der sonst modernen Kleidung getragen wird. Dort sehen wir zum Teil auch unverschleierte Frauen, manchmal mit Kopftuch, manchmal ohne. 2019 führte Saudi-Arabien das „Öffentliche Anstandsrecht“ ein, in welchem aufgeführt ist, was in der Öffentlichkeit für Männer und Frauen als angemessene Kleidung gilt, und was nicht. Araber*innen legen egal ob Mann oder Frau besonders Wert auf ihr Erscheinungsbild, auch Parfüm spielt eine große Rolle.
Sauberkeit ist im Islam wichtig. Die obligatorische Waschung vor dem Gebet wird an den vielen, vielen Moscheen leicht möglich. Die Dichte an Gebetsräumen ist hier wirklich unglaublich. Fünf Mal pro Tag wird gebetet. An diesen Zeiten steht das gesellschaftliche Leben in den Dörfern oft still. Geschäfte sind dann geschlossen, an der Tankstelle niemand da, das Restaurant leer. Kurz darauf geht es weiter. Der Islam ist gelebte Religion in Saudi-Arabien und findet auch in den modernen Leben der Menschen seinen Platz.
„Rund 85 Prozent der Einwohner*innen leben heute in Städten, doch viele von ihnen erst seit vergleichsweise kurzer Zeit; sie sind noch ihrem ländlichen Ursprung und seinen Traditionen verbunden.“
Martin Pabst in Saudi-Arabien verstehen
An Wochenenden wird von Vielen das Leben in der Wüste, der Natur zelebriert. Hauptsächlich Gruppen von Männern, aber auch Familien dürfen wir dabei beobachten, ja eigentlich mit ihnen erleben, wie sie ihre Lager auf bunt gemusterten Teppichen und Polstern einrichten. Sie sitzen am Feuer, es wird Kaffee und Tee getrunken, Wasserpfeife geraucht, viel geredet und gelacht. Teilweise auch gecampt, in Zelten oder unter dem freien Sternenhimmel. Es gibt große Outdoorshops, die wirklich alles was das Camperherz begehrt, anbieten. Vom Outdoorteppich in typischen Mustern, übers Kaffeetassenetui, oder dem elektrischen Kochtopf, zu Taschen für die Teekannen oder die metallenen Anrichteplatten. Ganze Einrichtungs- und Ordnungssets für die Kofferräume der hier viel gefahrenen Toyotas.
Ein Gericht, das bei solchen Ausflügen nicht fehlen darf ist „Kabsa“. Zwiebel, Gemüse und Reis wird mit Gewürzen und Fleisch im Druckkochtopf zubereitet. Entweder traditionell am Feuer oder elektrisch während der Fahrt zum Picknickplatz – mithilfe der Steckdose im Fahrzeug. Dann ist es bei der Ankunft schon fertig, praktisch. Es dauert nicht lange, bekommen wir einen Topf fürs Feuer geschenkt. Ausprobieren werden wir ihn wohl erst zu Hause, denn wir werden so oft auf „Kabsa“ eingeladen, dass wir eher auf unsere eigenen Gerichte zurückgreifen, wenn wir selbst kochen. Meist bekommen wir sogar alle Reste eingepackt, eine Packung Datteln, Obst oder Kekse dazu. Wasser und Cola, damit wir nicht verdursten. Gut, dass wir in der Natur auch meistens Hirten mit ihren Dromedar- oder Ziegenherden treffen und unsere Fülle an Geschenken mit ihnen teilen können.
Den Gegensatz dieses „Wüstenlebens“ findet man im modernen Ryiad oder Jeddah. Es sind oft die selben Menschen, die wir am Wochenende in der Natur treffen, die hier in luxuriösen Wohnungen oder Villen wohnen. Unmengen an Fast Food Läden, Coffee Shops, teure exklusive Restaurants und viele Malls, die den Konsum ankurbeln prägen den modernen Alltag in den Städten. Das Leben wird auf Snapchat, Tik Tok oder Instagram geteilt. Es ist interessant diese Lebensweise ebenso auf sich wirken zu lassen. Wir können danach Eines bestätigen: Die Veränderungen die Martin Pabst in seinem Buch beschreibt, findet man an jeder Ecke.
Der internationale Tourismus steckt genau genommen noch in den Kinderschuhen, es wird aber fleißig daran geplant und gebaut. Für uns wirkt es hier und dort noch etwas unorganisiert, viele historische Sehenswürdigkeiten sind aktuell wegen Arbeiten geschlossen, manchmal wissen die Angestellten selbst nicht warum wir gerade nicht reindürfen oder wo denn jetzt genau diese eine Veranstaltung ist. Bis zum Jahr 2030 möchte Saudi Arabien auf anderen Beinen stehen. Geöffnet für den Welttourismus, weg von der Abhängigkeit als Ölland, hin zu mehr Nachhaltigkeit und erneuerbaren Energien. Der Weg dorthin erscheint uns persönlich noch steinig. Aber was wissen wir schon nach nur rund sieben Wochen Reise an diesem Fleck Erde. Wir dürfen viel lernen und Saudi Arabien kann man unserer Meinung nach auf keinen Fall pauschal in eine Schublade zwängen.
Was uns (wieder einmal) am meisten prägt sind die Menschen. Für uns macht es keinen Unterschied ob wir in der Stadt oder am Land sind, ob gerade eine Frau oder ein Mann mit uns spricht. Egal ob Expatriates oder Einheimische, wir fühlen uns immer willkommen. Auch wenn Kritik an der noch durchaus repressiven Regierung berechtigt und durchaus notwendig ist, darf man die Menschen die hier leben nicht vergessen. Wir sind so dankbar für alle die wir auf unserem Weg quer durch das Land kennenlernen dürfen. Es sind zu Viele, um sie hier alle aufzuzählen. Da ist Abdullah mit seinem Sohn Khalil und seinen Angestellten, der uns auf seiner Farm campen ließ, uns mit Essen vesorgte und den wir gefühlt alles fragen konnten. Ahmed, der uns seine Stadt und seinen saudischen Alltag zeigte. Hamad, der sich so viel Zeit in seinem Museum für uns nahm und sogar traditionell einkleidete. Vaheed, der uns für einen Artikel interviewte, Samara die uns in ihre moderne Welt einlud. Tamir und Bander mit ihren Freunden, die uns in der Wüste in ihre Gemeinschaft aufnahmen und Fisal der uns einfach eines seiner Hotelzimmer am Meer zur Verfügung stellte. Sie und noch viele andere machen unsere Reise durch ihr Land zu einem unvergesslichen Erleben arabischer Gastfreundschaft zwischen Tradition und Moderne.
Toller Beitrag, tolle Photos!!! Saudi Arabien ist eins meiner,( ich hoffe bald unser) top Wunschziele. Wie komme ich auf euren gesamten Blog? Ich wollte ihn Freunde empfehlen, aber wir haben ihn nicht gefunden. Kommt ihr über Israel nach Hause? Ganz liebe Grüße Bernd und UllaVon meinem/meiner Galaxy gesendet
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Liebe Ulla! Ja es ist wunderschön und gepaart mit der wahnsinnigen Gastfreundschaft echt eine Reise wert. Vielleicht hilft der Beitrag ja Bernd umzustimmen 🙂
Unter http://www.tokoloho.at sollte der Blog aufrufbar sein, falls es weiterhin Probleme, bitte melden!
Wir kommen am Landweg heim, Israel haben wir ausgelassen 😉 ganz liebe Grüße! Michi
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Sooo schön geschrieben, wieder mal! Vielen Dank für eure Berichte. Wohin geht’s weiter?
Wir sind leider immer noch zuhause, die Reparaturen haben sich hingezogen. Mal sehen ob wir das dieses Jahr noch schaffen…😁 .
Gute Reise für euch 👋
LG Janet und Robert
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